Riesenrad bei Nacht
Das Münchener Werksviertel-Mitte soll auch noch in Jahrzehnten funktionieren. Daran arbeitet die Fraunhofer-Initiative Future District Alliance zusammen mit den Werksviertel-Machern. (Quelle: Pavel S. / Unsplash)

Elementebau 2023-05-30T07:45:56.538Z Verkehrssenken und Urban Farming

Das Fraunhofer-Projekt "Future District Alliance" setzt Leitideen für Zukunftsquartiere in die Praxis um. Von Roswitha Loibl

Das neue Netzwerk hat schon einige Knoten, und es soll weiter wachsen. Seine Fäden spannen sich momentan zwischen München, Stuttgart, Frankfurt am Main und Hamburg. In diesen Städten sind neue Quartiere im Werden, die dem Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) als lebendige Labore dienen. Dieser Innovationsverbund, die Future District Alliance, soll zeigen, wie Zukunftsthemen der Quartiersentwicklung in die Praxis umgesetzt werden können.

Ein Quartier wie das Münchener Werksviertel, das zum Verbund gehört, hat schon eine Identität entwickelt: als Ort zum Arbeiten, zum Übernachten im ehemaligen Kartoffelsilo, zum Feiern in der Nachtkantine - und auch zum Graffitisprühen. Doch das ist nur der Blick auf die Oberfläche. Damit ein solch vielseitiger Ort auch in einigen Jahrzehnten noch funktioniert und das Klima möglichst wenig belastet, braucht es mehr als bunte Fassaden und ein Riesenrad. Aber was? Daran arbeiten Jens Leyh und seine Kollegen und Kolleginnen im Forschungsbereich Stadtsystem-Gestaltung des Fraunhofer IAO.

Fünf Leitvisionen nennt Leyh, die er alle unter die Überschrift stellt: „Was muss passieren, dass…?“ Also: Was muss passieren, dass Quartiere als Verkehrssenken dienen? Unter Verkehrssenke versteht er einen Ort, der nicht nur für sich selbst emissionsfreie Mobilitätslösungen bietet, sondern auch die umliegende Stadt vom Verkehr entlastet. Das kann funktionieren, indem dort Logistikverkehre gebündelt werden. Oder durch Co-Working-Hubs, die Wege zum Arbeitsplatz verkürzen. Auch Parkraumstrukturen, die über das Internet of Things gesteuert werden, reduzieren die Belastung der Straßen.

Lebensmittelbedarf selber abdecken

Flexible Nutzungs- und Gebäudestrukturen sind ein zweiter Zukunftspunkt. Schon heute existieren Gebäude, die wie Regale aufgebaut sind, zumindest als Prototypen. In das modulare System von Kiubo beispielsweise können Wohnräume wie Bausteine eingeschoben werden. Ori Design Studio stattet Möbel für kleinste Räume mit Robotik aus. Von dieser Flexibilität profitieren nicht nur die Eigentümer der Räume, sondern sie ermöglicht auch unterschiedlichste Betreibermodelle.

Zeichnung eines Wohnviertels
Das IBA '27-Projekt Neuer Stöckach in Stuttgart macht mit bei der Future District Alliance. (Quelle: landstrich.eu / Matthias Oberfrank)

Ein wünschenswertes Zukunftsfeature ist die Selbstversorgung im Quartier. Wie kann es gelingen, dass der Wohn- und Arbeitsort im Jahr 2032 mindestens 50 Prozent des eigenen Lebensmittelbedarfs deckt? Einen Beitrag kann Urban Farming leisten, das möglicherweise eine eigene Assetklasse bilden wird. Gemüseanbau ohne Erde, sondern beispielsweise in einer wässrigen Nährlösung, Hydroponik genannt, funktioniert heute schon im kleineren Maßstab. Nährstoffe lassen sich eventuell aus Abwasser gewinnen, und Robotik unterstützt die Produktion und Verteilung der Güter.

Ein Punkt, der heute als besonders schmerzhaft empfunden wird, ist die Erlangung von Baurecht. Was muss passieren, damit Quartiere in maximal fünf Tagen Baurecht erhalten? Dafür müssten KI-Algorithmen alle Prozesse sowie die städtebaulichen Vorgaben über digital vernetzte Planungswerkzeuge regeln. Im Idealfall nutzen die Kommunen dann digitale Online-Zugangservices für die Prüfung und Genehmigung der Anträge. Auch standardisierte Kennzahlen wie Performance-based Building Codes unterstützen die Turbo-Genehmigung.

Quartiere verbessern die Klimabilanz

Die fünfte visionäre Frage gilt den Treibhausgasen. Wie kann es gelingen, dass Quartiere im Jahr 2032 im Bau, Betrieb und Umbau mehr dieser Klimakiller reduzieren als sie in ihrem Lebenszyklus erzeugen? Dann würden Quartiere zu CO2-Senken, die einen positiven Einfluss haben auf die Klimabilanz der gesamten Stadt. Grüngürtel wie der geplante 75 Kilometer lange Wald-Ring um Madrid, Biomasseparks, die als Kompensation wirken, Holzbau und CO2-neutraler Beton sind Stichworte ebenso wie Carbon Capture and Storage (CCS).

Potenziell realisierbar ist vieles, auch in den Bereichen Energieversorgung und Kreislaufwirtschaft. Aber wie konsensfähig sind diese Zukunftsideen, und wie lassen sie sich budgetieren? Das muss die Praxis zeigen. Die erste Forschungsphase des Verbunds ist im vergangenen Herbst gestartet und läuft bis zum Frühjahr 2025. Sie will Silo- ebenso wie Branchengrenzen überwinden. Was gut funktioniert und was nicht, wird sich dann nicht nur im Münchener Werksviertel zeigen, sondern auch am Fraunhofer Institutszentrum in Stuttgart, in den Quantum Gardens in Ehningen, im Wohnviertel „Der neue Stöckach“ in Stuttgart, in der Stadtmacherei in Hamburg-Eimsbüttel oder auch dem Gewerbecampus Westside in Frankfurt am Main.

zuletzt editiert am 25. Mai 2023